Mit etwas Abstand fühlt sich das, was in letzten Tagen ca. 50 Kilometer Luftlinie entfernt von mir in Lützerath passiert ist, fast schon unwirklich an. Dieses Mini-Dorf in NRW muss nach langem hin und her den Braunkohle-Baggern von RWE weichen, die insgesamt weitere 280 Millionen Tonnen Braunkohle aus der Erde holen sollen. Bis zuletzt hatten Aktivist:innen dort ausgeharrt, Häuser besetzt und sich sogar in einem Tunnelsystem versteckt, um die Räumung durch die Polizei so lange wie nötig hinauszögern zu können.
Es gipfelte in einer großen Demonstration am 14. Januar 2023, bei der ca. 30.000 Menschen vor Ort gegen die Räumung protestierten, begleitet von regionalen und überregionalen Medien sowie bekannten Gesichtern der Klimabewegung wie Luisa Neubauer oder Greta Thunberg. Es gab von diesem Woche beeindruckende, teilweise schockierende, teilweise lustige Bilder und Videos von Protesten im Schlamm, vom Wegtragen vieler Demonstrierender, von Tunnelgräbern, geworfenen Steinen und angezündeten Strohballen.
Interessant war und ist in diesem Zusammenhang auch, wie deutlich sich die Aufmerksamkeitswelle erkennen ließ. Die Leitartikel und Kommentare der darauf folgenden Woche konzentrierten sich auf einige wenige Fokuspunkte, wie etwa Gewalt von Polizist:innen und Demonstrierenden, das Wegtragen von Luisa Neubauer und Greta Thunberg und natürlich das Schicksal der beiden Tunnelgräber „Pinky und Brain“. Nach ein paar Tagen ist das Streiflicht dann wieder weitergezogen.
Dazu passt die Diskussion in der Episode E113 des Podcasts „Piratensender Powerplay“. Es ist beunruhigend, wie sehr man sich medial auf die Aufarbeitung der Demonstration in Lützerath konzentriert, anstatt das viel größere Problem dahinter zu diskutieren. Warum, so wird gefragt, geraten Klima-Aktivist:innen in Talkshows wie Anne Will von allen Seiten ins Kreuzverhör, während etwa die Führung von RWE und Landesregierung von NRW unbehelligt bleibt?
Es ist wahrlich keine neue Erkenntnis, dass sich Menschen einfacher mit Konkretem als mit Abstraktem befassen können. Je nachdem auf welcher Seite man steht, können viele sich über die ihrer Meinung nach sehr aggressiven Polizist:innen echauffieren, die Menschen brutal angehen – oder nur den Kopf schütteln über die Aktivist:innen, die sich ebenjenen entgegenstellen, sie möglicherweise verletzen und Kosten verursachen, die alle Steuerzahler:innen zu tragen hätten. Sobald es also um Körperlich- und Stofflichkeit geht, findet Berichterstattung ein dankbares Publikum. Weggetragene Menschen lassen sich gut in Bild und Ton zeigen, und das mediale Erzeugnis können wiederum Startpunkte für (Schein-)Debatten sein. Wurde etwa das Bild von Luisa Neubauer nachträglich mit Photoshop bearbeitet, um sie noch ikonischer wirken zu lassen (wie der ehemalige Bundesverkehrsminister auf Twitter mutmaßte)?
Die Polizist:innen, die eben noch versucht haben, Pinky und Brain aus dem Tunnel unter Lützerath zu holen, entfernen morgen einen „Klimakleber“ von einen Autobahnzubringer. Alles ist linear. Es scheint so, als ob wir einzelne Krisen abarbeiten wie Perlen auf einer Perlenkette, eine nach der anderen. Ich finde es bedrückend, dass dieses Kleinschrittige den Blick für die wichtigeren Themen bzw. größeren Zusammenhänge verstellt.